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Mittwoch, 13. April 2011

Stadtbaukunde VL5 / Wolff

UTOPISCHE STÄDTE
Dozentin: Almuth Wolff / 13.04.2011


EINLEITUNG


abb. metropolis
Gegenübergestellt werden utopische und atopische Stadtvorstellungen. Utopien beschreiben Idealstädte, bzw idealisierte gesellschaftliche Vorstellungen, die ihren Gegensatz in der Atopie / Dystopie finden. Sie entstehen aus der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, z.B. über Literatur und Film, stellen ein Bild dar, den Entwurf einer sozialen Struktur und seiner gebauten Form. Utopien beschreiben stets eine Reaktion, z.B. auf die Industrialisierung und den damit verbundenen Wandel der Gesellschaft durch Technologie und die daherrührenden neuen Lebenswirklichkeiten.

Der Begriff der Utopie leitet sich aus dem Griechischen ab, womit man die Worte "ou"=Nirgendwo und "topos"=Ort zu einem Kunstwort ("Nirgendland") zusammensetzt.


Bekannt wurde das Wort ab dem Jahre 1516 durch den britischen Sozialtheoretiker Thomas Morus. Mit seinem Titel Utopia legte er den Grundstein für das literarische Genre der Sozialutopie. Band 1 stellt eine Kritik der von Monarchie und Klerus dominierten britischen Gesellschaft dar, wohingegen Band 2 mit dem Entwurf eines idealisierten Gegenvorschlags eine pragmatische Reaktion auf die vorhergegangene Kritik aufzeigt. http://de.wikipedia.org/wiki/Utopia_(Roman)

abb. utopia
Seine literarische Fiktion der perfekten Gesellschaft spielt auf einer Insel, deren Städte den Makrokosmos Utopia bilden. Alle Städte sind gleich (vgl. "wenn du eine Stadt kennst, kennst du alle"), die Bevölkerung lebt gemeinschaftlich in dreistöckigen Wohngebäuden. Es gibt kein Eigentum und auch das Wohnen ist flexibel geregelt, Leben wechselt zwischen Stadt und Land. Die Gesellschaft ist drakonisch reglementiert, Fehlverhalten wird mit Arbeitseinsätzen bishin zu Sklaverei bestraft. Stände wurden als Kontrast zu klerikaler und monarchischer Herrschaft zugunsten einer sozialen Gleichheit aller abgeschafft, deren Durchsetzung jedoch auf einem strengen Normenkomplex beruht.
Textlog - Erzählung von der Verfassung der Insel Utopia


UTOPIEN ALS REAKTION

Städte erlebten durch die Landflucht eine regelrechte Bevölkerungsexplosion: Um 1750 bot die Stadt London circa 650.000 Menschen eine Heimat, um 1860 war die Zahl schon auf 3.200.000 angestiegen. Die damit verbundenen sozialen und auch hygienischen Probleme ergaben sich. Lösungen mussten folgen und so sah sich eine Vielzahl an Planern in der Pflicht unter anderem die nun folgenden Gegenmodelle als tatsächliche Planung oder literarische Sozialutopie zu entwerfen:


ROBERT OWEN, 1771-1858, VILLAGES OF UNITY AND MUTUAL CORPORATION
http://specialcollections.vassar.edu/exhibit-highlights/owen/communities.html
http://www.ibe.unesco.org/publications/ThinkersPdf/owene.PDF


NEW LANARK, 1800
  • Im Zentrum Fabrik, folgend Wohnen und Landwirtschaft
  • Festgelegte Arbeitsabläufe
  • kostenlose Schulbildung
  • Kinderarbeit ab 10 (für damalige Standards eine humanitäre Geste)
  • Aberkennung der elterlichen Erziehungskompetenz
  • Betriebskrankenkasse

    "Viele Ideen, die Owen in New Lanark hatte und umsetzte, sind heute in den Industrieländern selbstverständlich. Dazu zählen unter anderem: Abschaffung der Kinderarbeit, Schulbildung der Kinder, Arbeitszeitbeschränkung, effiziente Organisation der Betriebsabläufe, Motivation der Mitarbeiter, saubere Arbeitsplätze, Gewerkschaftsbildung, Genossenschaftswesen, etc."       Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Owen

NEW HARMONY
Perspektive + Legende
  • Scheitert an Lebenswirklichkeit der Bewohner
    (Anm.: Owens selber kommentierte, New Harmony sei an ungeeignetem menschlichen "Material" gescheitert.. )

    Einen weiteren Einblick in Owens Projekte/Versuche findet man in der Dokumentation "Himmel auf Erden - Aufstieg und Fall des Sozialismus". Des Komforts halber, hier eine direkte Verlinkung; relevant sind die ersten zwanzig Minuten (in etwa ab Minute 2:40):

    zSHARE video - Der Himmel auf Erden - Aufstieg und Fall des Sozialismus _1v3_ Der Aufstieg.avi.flv



JULES VERNES, Die 500 MILLIONEN DER BEGUM, 1879

Gegenüberstellung von France-Ville als Utopie und der von einem grausamen Deutschen geführten Atopie Stahlstadt. Wohingegen Stahlstadt als ein versmogter, Menschen metabolisierender Moloch technologischer Dominanz daherkommt, erscheint France-Ville als von Wasser, Licht und Grün gezeichneter elysischer Garten der Glückseeligkeit. Das Thema der Hygiene wurde angesprochen, so tauchen überall Schwimmbecken / Bäder auf [Anm. die mannigfaltige Präsenz dieser in öffentlichem Raum tauchte bereits in der antiken Schreckensherrschaft des Kaisers Caracalla auf]. Die Hygiene entwickelte sich in France-Ville zum Ideal. Historisch interessant ist natürlich, dass dieses Thema erst so spät Beachtung fand, so wurde die Praxis des Desinfektion bei medizinischen Eingriffen erst im Jahre 1860 als Notwendigkeit anerkannt und auch in London ergriff man mit dem Bau einer Kanalisation im Jahre 1840 erst sehr spät die adäquaten Maßnahmen. Letztendlich verdeutlicht der Fokus auf dem Faktor Hygiene in France-Ville den reagierenden Charakter dieser Utopie auf bestehende Probleme in gelebter und gebauter Umwelt.


EBENEEZER HOWARD, 1850-1928, CITIES OF TOMORROW
Garden Cities by Ebenezer Howard

Motive: Erhaltung, Begrenzung - entgegen der Auflösung.

Zentraler Gedanke dieser Idee ist die Vereinigung der Vorteile von Stadt und Land

Mit Stadt assoziiert man die Vorteile:
  • Arbeit
  • Nähe / Schnelle Erreichbarkeit / Infrastruktur
  • Soziales
  • Wirtschaft
Mit Land:
  • Natur / Idylle
  • Erhohlung
  • Gesundheit

Die Kombination der positiven Faktoren in ein Metakonstrukt sollte nun das Optimum von Stadt beschreiben (vgl. die Stadtentwürfe von Le Corbusier, Funktionale Trennung von Räumen). Die Cities of Tomorrow sollten einen radial organisierten Makrokosmos darstellen, innerhalb dessen Satellitenstädte für 30.000 Einwohner die Mikrokosmen bilden. Das Zentrum beschreibt Grünbereich und Verwaltungszentrum zugleich, von dem aus diagonale Schnellstraßen in die Peripherie ausstrahlen. Zwischen den Diagonalen sind die sogenannten "Wards", Wohngebiete organisiert. Der Industrie wurde der sich dahinterliegende Bereich und der Landwirtschaft die Peripherie zugewiesen. 



LETCHWORTH, ab 1903 / WELWYN, 1920

Diese beiden Utopien schafften nie den Übergang von der gut gemeinten Idee zur Manifestation des Gedanken in gebaute und gelebte Umwelt. Die Planung resultierte in für die Allgemeinheit zu hohen Kosten, wodurch sich vornehmlich Beamten / vermögendere Bürger das Leben in diesen Entwürfen leisten konnten. Hierdurch wurde den Ideen ein Vorortcharakter inhärent - Die Gartenstädte wie sie heute gesehen werden, sollten ursprünglich als vollständige Städte für jedermann genutzt werden, in der Praxis ergab sich kostenbedingt allerdings ein andere Realiltät.


BANDSTADT 
ARTURO SORIA Y MARTA, 1844-1920, CIUDAD LINEAL, 1884
  • Zentrale Achse
  • Promenade
  • Industrie Außerhalb
  • 5Km realisiert

BANDSTADT 
SOZGOROD

Die Auseinandersetzung mit der Entdeckung des Fließbands äußert sich darin, dass man Stadt als ein fließbandartigen Organismus interpretiert. Leben wird an Produktion gemessen und für sie entwickelt, Wohnen und Arbeit rücken sehr nah zusammen und werden lediglich von der Straße entlang derer die Stadt verläuft, getrennt. Die Gleichheit der Menschen spielt durch die Idealisierung des Arbeitertums eine Rolle (z.B. Kollektivierung über Gemeinschaftsräume), doch das Wesen Gesellschaft formende Primat beansprucht die Industrie.






BANDSTADT 
LE CORBUSIER, CITE LINEAIRE INDUSTRIELLE, 1942
  • greift Sozgorod auf
  • punktuelle Erscheinung von Industrie und Wohnen
  • als verallgemeinerbare Idealstruktur gedacht (Vorstellung von hierdurch verbundenem Europa)
  • Bandstadt als Verbindung zwischen zwei anderen Städten
BANDSTADT 
  • Viadukt
  • Unten Wohnen, Verkehr auf Dächern
  • interne zweigeschossige Gärten (vgl. Unité d'habitation)
  • nicht realisiert

EXPO 1931
  1. Wissenschaft entwickelt
  2. Industrie wendet an
  3. Mensch passt sich an

DAVID BUTLER, JUST IMAGINE, 1931
  • Glaube an Technisierung

FRANK LLOYD WRIGHT, 1867-1955, BROADACRE CITY
  • 1 Acre (4000m²) / 1 Familie
  • In Parzellen aufgeteilt
  • Dezentrale Organisation in Countys
  • gleichmäßige Besiedelung
  • Gleichförmigkeit symbolisiert Gleichheit
  • Jedes County eigenes Zentrum
  • County-Architekten
  • Jeder arbeitet in Landwirtschaft sowie Dienstleistung oder Industrie (also Doppelbeschäftigung!)
  • Verkehrsmittel spielen Rolle, da weitere Wege zwischen Arbeit und Wohnen
  • Bisher periphere Erscheinungsbilder werden zum Ideal stilisiert

CHANDIGARH, 1951, LE CORBUSIER
(siehe Architekturgeschichte)
  • Reaktion auf Unabhängigkeit Indiens
  • Stadtgebiete mussten neu aufgeteilt werden
  • Klares Straßenraster, prägt unterschiedliche Sektoren
  • Innerhalb der Sektoren keine Schnellstraßen
  • Sektoren nach Einkommensklassen getrennt
  • Auch die Armen sollten laut Vision in Genuss von Annehmlichkeiten kommen (de facto zog es jene aus kostengründen in informelle periphere Siedlungen)

BANDSTADT 
BRASILIA, LUCIO COSTA & OSKAR NIEMEYER, 1960

  • Wie Chandigarh Symbol der Loslösung von alten kolonialen Strukturen
  • In unbesiedeltem, unwirtlichem Gebiet
  • Costa entwirft Stadt, Niemeyer die Gebäude
  • Kreuzförmiger Grundriss
  • Zentrale Achse, Sektoren, Verwaltung im Zentrum
  • Sukzessive Erstellung, zögerliche Entwicklung
  • Wohnen nicht mehr in kleinen Häusern, sondern in Wohnblöcken
  • Kontrast: Arbeitersiedlungen im Wildwuchs um Sektoren herum

FAZIT:

Bis 2030 soll die hälfte der Weltbevölkerung in Städten leben. Immer mehr Menschen leben in Millionenstädten, sie wachsen, besonders anziehend sind die mittleren Millionenstädte (6Mio Ew). Was macht man nun mit den Megacities? Wie stellen sich die zukünftigen Aufgaben von Stadtplanern dar? Parallel zu den Megacities taucht das Phänomen der Shrinking Cities (z.B. Detroit, Verfall Autoindustrie, urbane Landwirtschaft, Menschen wohnen Außerhalb) auf. Gegenwärtig werden keine Stadtutopien, sondern eher fatalistische Bilder gezeichnet, z.B. die generic city von Koolhaas (generic=alternativ, aber gleich; Neuerfindung der Städte jeden Tag, Permanenz des Wandels). Blick nach Asien: Radiale Strukturen bei Neugründungen,...